Die Sonne geht auf. Das ist alles, was zählt. Meine Augen sind verklebt von Traumkonstrukten, die mich in der Nacht ins Zentrum des Wahnsinns getrieben haben. Im Traum lässt sich das ertragen. Im Traum kann ich mich dagegen nicht wehren. Wenn ich aufwache, reibe ich mir die Augen, muss jedoch nach Öffnen dieser feststellen, dass ich nichts sehe – stimmt nicht genau. Nicht gut sehe. Äußerst schlecht sehe. Der erste Blick fällt auf ein mit Ornamenten durchwobenes, strukturiertes weißes Papier. Küchenrolle. Erst als ich genau hinsehe, erkenne ich, dass die farbigen Drucke in Orange und Rot Kochmützen, Holzkohlengrille und aufgespießte Bratwürste abbilden.
Ich ziehe die zwei abgerissenen Blätter der Küchenrolle zu mir. Rieche daran. Habe ich gestern Abend onaniert? Der Geruch der Küchenrolle lässt nicht darauf schließen.
Ein lebenswichtiges Utensil, die Küchenrolle. Sie gibt mir Halt, wenn das Klopapier ausgegangen ist. Obwohl sie sich am Arsch bei Gott nicht so gut anfühlt. Zu hart, wie ich meine. Ich verwende keine Handtücher mehr, stattdessen Küchenrollen. Eine Küchenrolle, damit meine ich eine 6er- oder 12er-Großpackung, sollte in keinem Hausstand fehlen. Würde mich in einer Quizshow jemand fragen: „Was würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?“ – ohne zu zögern würde ich mit „Küchenrolle“ antworten. Und wenn sich meine näheren und weitschichtigen Verwandten irgendwann um meinen Nachlass raufen, werden sie überrascht sein. Was wirklich zählt, wird meist als irrelevant eingestuft. Mit der einfachen Begründung, es als Selbstverständlichkeit zu begreifen. Wohnung, Nahrung, Gesundheit. Hurra, wir leben, als gäbe es kein Morgen. Doch was wäre die Welt ohne Küchenrolle?
Und wenn wir das Tischchen des einen Möbelhauses durch das Tischchen des anderen Möbelhauses ersetzt haben, setzen wir uns in ein Kaffeehaus, lehnen uns zufrieden zurück und erachten den zu Ende gehenden Tag als einen sinnvollen.
Ein sinnvolles Leben hat höchste Priorität. Der Antrieb wird immer entscheidender. Die Antriebsart immer genauer durchleuchtet. Heuchler. Dieselantriebe sind momentan – buh! Böse. Böser Diesel. Böser, böser Diesel. Macht alles kaputt. Erkenntnisse, die wie durch ein Wunder gerade jetzt an die Öffentlichkeit gelangen. Über Jahrzehnte wurde uns die Dieseltechnologie als effizient, umweltfreundlich und saubere Technologie verkauft, und plötzlich schenken Tageszeitungen in Europa und den USA ganze Sonderausgaben diesem Thema. Um das Böse in Form von Dieselaggregaten aus dem Verkehr zu ziehen. Um Platz zu machen für neuen Unrat auf dieser Welt. Und der persönliche Antrieb? Wird immer spezifischer. Tritt in Erscheinung durch Bierzeltwampen abstrampelnde Hightech-Fahrradfahrer auf der Überholspur, die lautlos über 3D-Zebrastreifen gleiten. Die Leerstände in den Altstädten Österreichs werden gefüllt mit Highspeed-Krafttrainingskammern, in denen sich Business-Frauen ihre stringtangaverzierten Leggingsärsche formen, bevor sie abends den nächsten gesellschaftlichen Empfang im den zuvor gewechselten Stringtanga durchblitzen lassenden hautengen Cocktailkleid besuchen. Was bewegt die Masse noch? Ein schlechtes Gewissen. Zu wenig Zeit. Für alles. Für die Kinder, die Hobbys, den Mann, die Frau und vor allem für sich selbst. Alle eindringlichen Versuche, Gerätschaften als Zeitsparer unters Volk zu bringen, sind gescheitert. Von der Waschmaschine bis zu Softwareprogrammen. Keine Zeitersparnis zu bemerken. Und der innere Antrieb? Längst infrage gestellt. Durch Modekrankheiten die Infragestellung noch deutlicher untermauert. Wer kein Burn-out hatte, hat nie wirklich gelebt. Und ohne ADHS in der Kindheit gibt es kein Erwachsenwerden. Erst die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ist es doch, die uns zum Teil der Allgemeinheit werden lässt. Erst wenn wir mit Medikinet, Ritalin, Ixel, Tresleen und weiteren Präparaten versorgt sind, hat unser Leben wirklich begonnen. Verstehen wir uns in einer Welt der Verrückten als Individuum.
Mein Leben beginnt mit dem Sonnenaufgang. Ich bin der schlechteste Konsument, den die Welt je gesehen hat. Ich erfreue mich an der Blattverfärbung der Linde vor dem Haus. Nichts damit zu gewinnen. Meine Kleidung trage ich, bis sie zerfällt. Die sich immer schneller drehende Haben-Sein-Spirale findet in meinen Augen nur insofern Beachtung, als ich grundlegenden Verpflichtungen nachkomme. Ich vergeude keine Energie. Fernseher aus. Radio aus. Zumindest während der Werbung. Zeitungen abbestellt. Wer dieser Tage mittut, ist ein Mittäter und hat mit den Konsequenzen selber fertigzuwerden. Pharmaprodukte helfen auf dem Weg dorthin.
Ich widme mich unterdessen dem nächsten Sonnenaufgang – und meiner Küchenrolle.
Aus Es scheint Hoffnung – Absurditäten (c) 2018 Mitgift Verlag
Was will man zu diesem Text sagen, der wohl etwas zu lang geraten ist um ihn online zu lesen, aber er ist schön, er ist konsumkritisch und er ist sozialkritisch und deshalb ist er aus meiner Sicht gut.