Premiere
Totenstille in der Loge. Es ist heute anders. Die erste Geige im Orchestergraben fiedelt nicht. Der Landeshauptmann sitzt nicht neben mir. Der Souffleurkasten ist nicht besetzt. Die Scheinwerfer beleuchten die Bühne, sie sind auffällig leise. Der Regieraum gegenüber der Bühne ist in minimiertes Licht gehüllt, doch nicht besetzt. Ich in Erwartung. Welches Stück noch mal? Am Ende „Warten auf Godot“? Zwischendurch war mir, als hörte ich Vogelgezwitscher. Aus der Konserve, also vom Band. Es gibt kein Band mehr, keine Tonbänder, seit Jahren nicht mehr. Audiofiles kommen von der Festplatte. Eine Welt voller Festplatten. Sollte jetzt nicht eine Stimme sagen: „Schalten Sie Ihr Handy erst nach der Vorstellung wieder ein.“? Die Stille ist ungewohnt. Das Schöne an Ungewöhnlichem ist, dass wir uns in der Regel sehr schnell darauf einstellen. Kann ich von mir nicht behaupten. Ich schlafe schlecht, seit Tagen. Jetzt wäre es an der Zeit, dass mein Handy vibriert. Dass ich dieses Gebrauchtwerden an der Brust spüre. Wie oft blickt man täglich auf sein Mobiltelefon? Ob es noch Menschen gibt, die keines haben? Vor dreißig Jahren hatte niemand eines. Die ersten kiloschweren Dinger wurden in Autos eingebaut. Finanzvorstände, Geschäftsführer und Zuhälter ließen sie sich einbauen. Jetzt trage ich die Welt in meiner Brusttasche und bin
doch alleine.
Ein Bestandteil eines Theaterbesuches ist es, die anderen Theaterbesucher zu inspizieren. Die Augen auf die Reise zu schicken, durch die Reihen, auf die Balkone und in die Logen. Ein minimales Gefühl der Vertrautheit und Geborgenheit besteht darin, dass es so ist, wie es immer ist. Dass Dinge, Ereignisse so sind, wie sie immer sind. Dass wir nach einem Konzertbesuch über die Grässlichkeiten der Aufführung diskutieren oder sie in einer Endloslitanei hochleben lassen. Wo sind die im Geiste getrennt lebenden Ehepaare, die sich auf den Sitzen tummeln? Die ihre gesellschaftliche Verpflichtung ernst nehmen. Wo sind die Frischverliebten, die sich während der Aufführung an den Händen halten, sich vor Veranstaltungsbeginn einander zuwenden, sich berühren?
Wo sind die Hände auf den Schenkeln der Frauen?
Wo die Studenten, die ewig studieren ohne zu wissen warum?
Wo die aufstrebenden Karrieristen, die, ihr Ziel vor Augen, selbst den Theaterbesuch als Investition ins eigene Ich verstehen? Wo sind die Intellektuellen, die als Kind zu kurz gekommen sind, und sich jetzt durch ihre Theaterkritik in den Gazetten an der Gesellschaft rächen? All diese Gestalten unter einem Dach. So soll es sein, so soll es bleiben. „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.“ 1 Eine Generation temporärer Obdachlosigkeit. Besetzt um Himmels willen dieses Haus! Sie werden es nicht glauben, die Stuhltapezierung – hat ein Loch. Kann mir mal jemand … na egal. Wie lange könnte ich in dieser Loge überleben, mit Blick auf die Bretter, die angeblich die Welt bedeuten? Eigenartige Welt. „Geh ja nicht raus, bleib in der Loge!“, hat Mama mir gesagt. Ach, Mama ist tot? Wer hat es mir dann geflüstert? 14 Tage vielleicht. Also, überleben. In dieser Loge. Ohne Wasser wohl kaum. Wann würde ich die erste Kakerlake sehen? Oder sie mir einbilden? Freizeitbeschäftigung als Überlebenselixier. Daseinsberechtigung? Haben wir nicht alle eine Daseinsberechtigung? Hier in dieser Loge nur mit Ticket. Außer Haus nur mit triftigem Grund. Es geht um Ihre/ meine Gesundheit. Das ist keine Freiheitseinschränkung. Es ist ausschließlich zu meinem Besten, rede ich mir ein, ohne mir diesbezüglich sicher zu sein. In dieser Loge. Wenn jetzt wer käme. Einfach die Türe öffnete, auf mich zuschritte, mir die Hand gäbe, mich umarmte, mit seinen Händen über meinen Körper streifte, mich überall berührte und mich minutenlang anhustete.
Peter Handkes Stück „Die Stunde
da wir nichts voneinander wußten“
neu inszeniert?! In einer hustenden Version.
Wenn ich aus der Loge springe und am Boden aufpralle, bin ich nicht tot. Das bringt mich nicht weiter. Schwere Verletzungen bringen mich in dieser Situation nicht weiter. Also warte ich geduldig, bis der Theatervorhang sich hebt und das Licht angeht. Was verbirgt sich hinter dem Vorhang, wer dirigiert im Orchestergraben? Wer nimmt noch und wieder auf den Theaterstühlen Platz? Langsam geht das Licht aus und das Schauspiel beginnt.
26. März 2020
Aus Corona Carinthia (c) 2021 Mitgift Verlag
1 Rainer Maria Rilke: Herbsttag, 1902
Ein sehr gefühlvoller Einstieg ins Buch. Trotz oder vielleicht wegen der kurzen unverschnörkelten Sätze äußerst wort- und bildstark. Die Ich-Form des Erzählers verbindet sich augenblicklich und mühelos mit meiner eigenen Vorstellungswelt.
Auch ich will nun wissen, was sich hinter dem Vorhang verbirgt. Und werde überrascht und berührt von dem weiten Bogen, den dieses Buch schafft zu umspannen. „Mir scheint, alles hängt an allem“, schreibt der Autor irgendwo und so springt mein Geist beim Lesen sofort an und erfreut sich am Zuchtstier „Wintertraum“, am Feldrobotor „Xaver“ und am „Kuah-Lotto“ für Subventionsvergaben.
Klare Worte findet der Autor. Einige auch unflätig und (für manche) „hart zu nehmen“. „Mut kann man (sich) nicht kaufen.“ Dieses Buch sehr wohl.